Grundlage und Definitionen
Integrative Psychotherapie und qualifizierte Seelsorge


1. Was versteht man unter Psychotherapie?

Während in der wissenschaftlichen Psychologie relative Einhelligkeit darüber besteht, welche Anteile der "Seele" untersucht werden können (nämlich das "Verhalten" und "Erleben" des Menschen), und die empirisch ermittelten Ergebnisse daher auch intersubjektiv überprüft werden können, ist dies im Bereich der Psychotherapie völlig anders.

Auch diese Disziplin enthält das Stammwort "psyche", und wörtlich übersetzt könnte man vom "Dienen, Helfen und Heilen" (gr.: therapeuo - qerapeuw - qerapeia) der Seele ausgehen. Vor einem solchen Hintergrund wäre dann Psychotherapie als eine Disziplin zu definieren, die der kranken oder gestörten Seele hilft.

Allerdings gibt es - im Unterschied zur Psychologie - auch in Fachkreisen keine einhellige Meinung darüber, was man unter "See- le (Psyche) zu verstehen hat. Jede der ca. 80 psychotherapeutischen Schulen (vgl. Corsini 1983) muss deshalb ihre individuelle Sicht dessen, was sie unter Seele versteht, reflektieren (was explizit nur sehr selten geschieht), und erst entsprechend der jeweiligen Definition kann (bzw. müsste) dann entschieden wer den, welcher Ansatz zur Ergebnisfindung vor wissenschaftstheoretischem Hintergrund angemessen ist. Damit wird unschwer deutlich, wie verschiedenartig - bedingt durch die unterschiedlichen Anthropologien - die theoretischen und praktischen Ausprägungen der jeweiligen "Schulen" sein müssen.

Um diese Unterschiedlichkeit zu untersuchen, haben wir eine einfache Systematik entwickelt:



Die jeweilige Anthropologie (bzw. die Beschreibung dessen, was unter "Seele" verstanden wird) führt konsequenterweise zu einer Beschreibungsmöglichkeit von krankhaften Abweichungen der gesunden Seele (Psychopathologie). Werden diese Abweichungen (Devianzen) behandelt, baut sich darauf folgerichtig eine entsprechende Therapie bzw. Seelsorge auf, die den Weg zu Gesundung bzw. Heilung führt. (Wir haben diese Procedere in unserem Institut für eine größere Zahl von Psychotherapien vorgenommen.)

Nachfolgend soll dieser Schritt auf die in den vergangenen Jahren in unserem Institut entwickelte "Integrative Therapie und Seelsorge" angewandt werden. (Prof. Dr. Michael Dieterich).

2. Verständnis und Behandlung der Seele in einer "Integrativen Psychotherapie und Seelsorge"

Der Terminus "Integrative Therapie" ist zwar von Hilarius Petzold geschützt worden (1991). Er soll aber bei den nachfolgenden Betrachtungen unabhängig davon (in einem weiteren Sinne, als Petzold dies tut) gebraucht werden, wird übrigens heute auch von anderen Autoren benützt (vgl. Fiedler 2000).

Schritt 1 (Anthropologie):
Was kann unter "Seele" im weiten Sinne verstanden werden?


Ich schlage eine holistisch orientierte Definition vor, die - im Unterschied zum platonischen Denken - nicht davon ausgeht, dass der Mensch eine Seele hat, sondern dass er/sie eine Seele ist.
Dies bedeutet für seelsorgerlich-therapeutische Prozesse, dass man durchaus unterschiedliche Aspekte eines solchen Seelenbegriffes im weiten Sinne betrachten kann (z.B. die Körperlichkeit, das Denken und Fühlen und das religiöse Erleben des Menschen), jedoch immer von einer sich gegenseitig bedingenden Einheit ausgehen muss (vgl. Prof. Dr. Dieterich 1998).

Grundlage für eine solche ganzheitliche Anthropologie ist nicht die platonische Seelenvorstellung (die darauf beruht, dass die Seele des Leibes beraubt werden könne und erst nach der Trennung ganz zu sich selbst kommt), auch nicht die Dreiteilung der Pythagoräer (in Denken, Willen und Begehren) oder des Aristoteles in Ernährung, Wahrnehmung und Denken, sondern der bereits im Alten Testament gebrauchte Seelenbegriff (vgl. Gn. 2,7) des bedürftigen Menschen, der durch "näphäs" (vgl. Wolff 1984, 25 ff) beschrieben werden kann. (Näphäs, hebr. Bedeutet das, was den Menschen zu einem lebendigen wesen macht, ursprünglich "Rachen" oder "Gurgel").

Auch im NT umfasst "psyche", zumeist im ganzheitlichen Sinne als "Sitz des Lebens" beschrieben, das natürliche Sein des Menschen. Interessant ist die Zusammenschau von "Geist", "Seele" und "Leib", die Paulus in 1. Thess. 5, 23 anführt, wenn er von der Sorge um pneuma, psyche und soma spricht. An anderer Stelle unterscheidet er den natürlichen (beseelten) und den geistlichen Menschen (1. Kor 15,45).

Zusammengefasst und als deutliche Erweiterung zu den säkularen Definitionen der Seele kann vor einem solchen Hintergrund fest- gestellt werden, dass nicht nur die körperlichen und psychischen Dimensionen des Menschseins, sondern auch die des Glaubens bzw. seiner Spiritualität in die ganzheitliche Sicht einzubeziehen sind. Etwas salopp ausgedrückt könnte man mit einer solchen Beschreibung davon ausgehen, dass Psychotherapie die Teilmenge einer ganzheitlichen Seelsorge - bzw. Seelsorge ohne Einbeziehung der Spiritualität ist.

Eine solch weite Definition schließt wissenschaftstheoretisch gesehen Therapieformen ein, die nicht empirisch überprüft werden können, sondern z.B. eher einer hermeneutisch - geisteswissenschaftlichen Deutung (vgl. u.a. Mertens 1994) bedürfen. Damit wird eine gewisse Einseitigkeit der Metastudie von Grawe (1994) überwunden. Daneben werden aber auch die häufig vernachlässigten religiös-spirituellen Aspekte im Sinne einer "Seelsorge im engeren Sinne" (für die auch ein hermeneutischer Erschließungsprozess nicht hinreichend wäre) als konstitutiv angesehen.

Schritt 2 (Psychopathologie):
Welche Störungen können auftreten?


Mit unserem ganzheitlichen Verständnis von Seele im obengenannten Sinne soll nun - mehr nach einem gemeinsamen Konzept für Störungen, Abweichungen bzw. Devianzen gesucht werden, das den drei genannten Aspekten der Seele gerecht wird. Als gemeinsame Störungsursache für somatische, psychische und pneumatische (spirituelle) Aspekte der Seele lässt sich das sowohl in der Naturwissenschaft als auch den modernen Informationswissenschaften bekannte Prinzip der Entropie einführen. (Dieterich 1998).

Ich gehe vor diesem Hintergrund davon aus, dass es zu seelischen Störungen durch eine Entropievergrößerung im Sinne von größerer Unordnung kommt. (Der im 19 Jht. von Clausius erstmalig konzipierte Entropiebegriff der Physik bildet die Grundlage für den universell gültigen. In der modernen Informationstheorie wird heute als Maß für Unordnung verstanden).

Bezogen auf die o.g. Aspekte der Seele können seelische Störungen in folgenden Bereichen verursacht werden:

  • durch eine Vergrößerung der Unordnung von Soma im Bereich der Zellen (z.B. der "ungeordneten" Neurotransmitter),

  • durch eine Vergrößerung der Unordnung von Psyche im Bereich der Gedanken und Gefühle (z.B. der irrigen Denkstrukturen)

  • und im pneumatischen (spirituelle) Bereich durch eine Vergrößerung der Unordnung im Verhältnis zu Gott (den Stifter diese Unordnung nennt die Bibel = Durcheinanderwerfer).


  • Dabei kann es auch zu entsprechenden Interdependenzen zwischen den Bereichen (z. B. i. S. von psychosomatischen Störungen, "somatopneumatischen" Störungen oder "psychopneumatischen" Störungen) kommen.

    Schritt 3 (Psychotherapie/Seelsorge):
    Wie kann man ganzheitlich helfen?


    Soll nunmehr im Sinne dieses ganzheitlichen Seelenbegriffes therapiert bzw. "beseelsorgt" werden, kann man das griechische Wort "therapeuo" in seinem ursprünglichen Sinne übersetzen mit "dienen, helfen, heilen". Dabei zeigen sich, entsprechend der vorgenommenen anthropologischen Grundentscheidung und der daraus folgenden Psychopathologie (Schritte 1 und 2), drei grundsätzliche und verschiedenartige (jedoch interdependente)

    Arten der Hilfestellung:

  • Für den somatischen Bereich:
    Pharmakologische und andere medizinische Hilfestellungen. Hierzu sei auf die wichtigen Forschungsergebnisse aus der Psychiatrie, insbesondere im Bereich der Pharmakotherapie, verwiesen. Dabei ist davon auszugehen, dass mittelfristig noch wesentliche neue Erkenntnisse durch die neuen computerunterstützten Untersuchungsmöglichkeiten hinzukommen werden.


  • Für den psychischen Bereich:
    Lerntechnische Hilfestellungen. Im ersten Augenblick mag die Reduktion einer Therapie im psychischen Bereich auf lerntechnische Hilfestellungen sehr verkürzt oder "behavioristisch" erscheinen. Wenn wir jedoch versuchen, die verschiedenen Ausprägungsformen der ca. 100 bekannten Psychotherapien miteinander zu vergleichen, dann fällt auf, dass es möglicherweise doch mehr Gemeinsames als Trennendes gibt (vgl. u.a. Bergin/Garfield 1994; Schulte 1991, Grawe 1995, 1998) - auch wenn orthodoxe Vertreter ihres Faches dies immer wieder entschieden bestreiten.
    Gemeinsam ist allen Therapieschulen, dass Lernprozesse eingesetzt werden. Dies soll nachfolgend noch etwas genauer erklärt werden: Mit der Annahme, dass es sich bei der Psychotherapie um eine Veränderung des Menschen in dem Sinne handelt, dass er sich nach dem therapeutischen Prozess überdauernd besser fühlt, kann man diese Änderung durchaus als einen Lernprozess beschreiben. Und tatsächlich sind solche Lernvorgänge -in der psychologischen Fachliteratur als eine "überdauernde Änderung" definiert (vgl. Hilgard/Bower 1975,16), die nicht durch angeborene Reaktionstendenzen oder organismische Zustände erklärt werden kann - dann wohl das Gemeinsame aller Psychotherapien.


  • So gesehen sind dann konsequenterweise die teilweise sehr aufwendig beschriebenen "Techniken" bzw. die nicht selten als konstituierend beschriebenen Schwerpunkte der verschiedenen therapeutischen Schulen nichts anderes als didaktische Varianten eines Lernprozesses (wobei man relativ grob zwischen Lernen durch Konditionieren, durch Imitation und durch Einsicht unterscheiden kann). Hierzu werden in absehbarer Zeit gründlich recherchierte Ergebnisse einer entsprechenden Studie aus unserem Institut in Deutschland vorgelegt.

    Für den im jeweiligen Paradigma verhafteten Therapeuten mag dieser allgemeine Ansatz schwierig zu akzeptieren sein. Man kann jedoch ohne Mühe von diesem lerntheoretisch orientierten Standpunkt ausgehend zeigen, dass (um einige Beispiele zu nennen) sowohl das "Refraiming" als auch die "Widerstandsanalyse", die "Übungen zur Selbstexploration" oder die "Konfrontation mit dem Skript", "Körpertherapien" oder ein "heißer Stuhl" nichts anderes sind als didaktische Varianten eines Lernprozesses im Sinne von Umdenken, Konditionieren, Modell- lernen usw. Bestätigt wird diese Annahme übrigens auch dadurch, dass relativ viele psychotherapeutische Schulen trotz großer Unterschiede in ihrer Theoriebildung dennoch Erfolge zeigen.

  • Für den pneumatisch-spirituellen Bereich:
    Transzendente Hilfestellungen. Neben den Therapiemöglichkeiten durch Psychopharmaka und Lernprozesse sehe ich als dritte Änderungsmöglichkeit die spirituell-religiösen Aspekte eines Heilungsprozesses. Bisher wurde das religiöse Element für die Psychotherapie wenig in Betracht gezogen bzw. sogar als "unseriös" oder "unwissenschaftlich" abgelehnt. Wenn es im positivistischen Sinne gesehen nur das gibt, was in einem gewissen Ausmaß nachprüfbar ist, und wenn man davon ausgeht, dass man irgendwann alles messen und überprüfen kann, dann mag eine solche Sicht angemessen sein. Spiritualität bzw. Pneuma gehören jedoch in den Bereich der "unsichtbaren Wirklichkeit" (vgl. Hebr 11,3) und entziehen sich damit prinzipiell einer innerweltlichen Überprüfbarkeit. Es kann allerdings nicht übersehen werden, dass auch den modernen Menschen die Fragen nach Schuld, Sünde, Vergebung, Ewigkeit, Sinn des Lebens, der Wirkung Gottes, usw. umtreiben - und deshalb kann bei einem ganzheitlichen Menschenbild dieser Aspekt der menschlichen Seele nicht unterschlagen werden.
    Die Praxis zeigt Übrigens, dass heutzutage viele Psychotherapeuten in einem spirituellen Bereich arbeiten. Dass dies derzeitig auch in Europa und den USA nicht selten vor dem Hintergrund asiatisch geprägter Religionsformen im Sinne von "New Age" geschieht, ist m. E. unseren großen christlichen Volkskirchen anzulasten, die es bisher nur in geringem Maße verstanden haben, die genuin-religiösen Aspekte der Psychotherapie in die psychotherapeutische Landschaft einzubringen.

    Der praktische seelsorgerlich-therapeutische Ansatz, dessen Konzept im Zukunft übersichtsweiße dargestellt wird, geht nunmehr davon aus, dass nach einer gründlichen Diagnostik deutlich wird, welche Schwerpunkte (somatisch, psychisch oder pneumatisch) die anzustrebende Psychotherapie / Seelsorge haben wird.
    Dabei zeigen unsere Erfahrungen, dass es sich bewährt, den ersten diagnostischen Blick auf die somatischen Gegebenheiten zu richten (hierzu gehört auch eine fachärztlich-psychiatrische Abklärung).

    Wenn es hierbei zu keinem pathologischen Befund kommt, sollte im zweiten Durchgang an psychische Hintergründe (Lernprozesse und Lebensgeschichte) gedacht, und erst wenn es auch hier zu keinem Befund kommt, angenommen werden, dass spirituelle Hintergründe maßgebend für die seelische Störung sind.
    Mit den Ergebnissen von Klaus Grawe kann davon ausgegangen werden, dass nach Einsatz der einer Störung angemessenen Therapie die Erfolge relativ zügig nachweisbar sind. Wenn sich allerdings nach ca. 10 bis 20 Sitzungen keine oder nur wenig Änderungen zeigen, muss der therapeutische Ansatz geändert werden. Dieses Vorgehen im Sinne eines "Probierens" führt zu einer sukzessiven Annäherung (Iteration) an den gesunden Zustand durch verschiedenartige therapeutische Maßnahmen. Für Vertreter einer "geschlossenen" oder "schönen" Lösung mag ein derartiger Therapieprozess eklektizistisch erscheinen. Er entspricht jedoch in hohem Maße dem Vorgehen, das viele wissenschaftliche Disziplinen heutzutage auswählen müssen - weil sie wegen der Komplexität der Ursachen zu keinen kausalen Zusammenhängen mehr kommen können.

  • Definition einer Integrativen Psychotherapie und qualifizierte Seelsorge:

    Die "Integrative Therapie und Seelsorge" ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sowohl die unterschiedlichen Aspekte der "SEELE" integriert (bzw. in ihren Interdependenzen sieht) als auch die Integration (ohne Prioritäten) der unterschiedlichen methodischen Ansätze der einzelnen Therapieschulen im Sinne von Lernprozessen aufnimmt. (Nach Indikation bzw. entsprechend der Persönlichkeitsstruktur von Ratsuchendem-Patienten und Therapeuten kann dies formelhaft durch eine Gleichung mit drei Unbekannten ausdrückt werden mit: Therapiemethode, persönlicher Hintergrund des Psychotherapeuten-Seelsorger/in, persönlichen Hintergrund des Ratsuchende - Patienten und die Umstände bedeuten). Die methodische Vorgehensweise ist dabei eine iterative, so dass man auch von einer "Integrativen - iterativen Therapie und Seelsorge" sprechen könnte.